Immer wieder verlassen uns Kinder. Stellvertretend möchten wir einige von ihnen vorstellen. Mädchen und Jungen, die wir auf ihrem letzten Weg begleitet haben. Die tapfer und kämpferisch, liebenswert und phantasievoll waren. Und einzigartig – wie jeder einzelne Stern am Himmel.

„Wenn Sterne am Himmel leuchten, tritt Licht in unser Herz. Denn wir wissen, Du siehst auf uns herab…“ (aus einem Nachruf)

25.08.2020

Annelie

Es war ihre erste Schwangerschaft und sie war schön. Elke litt kaum unter Übelkeit, sie und Michael genossen die Zeit, machten Urlaub auf Kreta und einen Road-Trip nach Berlin. In der 32. Schwangerschaftswoche stand die nächste routinemäßige Ultraschalluntersuchung an. Die werdenden Eltern wussten, dass ihr ungeborenes Kind etwas kleiner als üblich ist. Das war für sie jedoch kein Grund zur Sorge. Der Frauenarzt stellte dann doch eine singuläre Nabelschnurarterie und einen grenzwertig erweiterten Hirnventrikel. „Er sagte uns, dass dies etwas bedeuten kann, aber nicht muss“, erinnert sich Elke heute, sieben Monate später. Das Paar machte einen Termin bei einem Pränataldiagnostiker. Sie waren zusammen bei der Untersuchung, begleitet von der großen Angst: Was ist, wenn da doch etwas nicht stimmt? Sie erfuhren, dass ihr ungeborenes Kind ein Mädchen ist: Annelie sollte sie heißen. Der Arzt vermutete nach einer langen Untersuchung, in welcher er weitere Auffälligkeiten feststellte, eine genetische Störung. Wenig informiert wurden Elke und Michael nach Hause geschickt. Für das Paar brach eine Welt zusammen. „Das kam alles wie aus heiterem Himmel“, erinnern sie sich. Im Bekannten- und Freundeskreis waren gerade auch andere Paare schwanger. Überall lief es wunderbar. „Warum sollte es nicht bei uns auch so sein“, fragte sich das Paar. Gespräche mit den eigenen Eltern haben beiden sehr geholfen. „Ansonsten haben wir uns eingeigelt“, berichten sie.

Einige Tage später gingen sie gemeinsam und wieder mit großer Angst zur Fruchtwasseruntersuchung. Nach 24 Stunden sollten die Ergebnisse des Schnelltests vorliegen, nach 10 Tagen die des Langzeittests. Der Anruf am nächsten Abend verkündete ein unauffälliges Ergebnis. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Langzeittest etwas anderes sagt, sei sehr gering. „Wir waren so erleichtert und stürzten uns voller Freude in die weiteren Vorbereitungen.“ Kinderzimmer einrichten, Kinderwagen besorgen - es gab noch viel zu tun.

Zehn Tage später - es war Elkes erster Tag im Mutterschutz - saß das Paar wieder beim Pränataldiagnostiker. „Ich bin ehrlich, mir gefällt ihr Kind nicht“, bekamen die werdenden Eltern zu hören. „Wir waren wieder auf dem Boden der Tatsachen“, erinnert sich Elke. Wenige Tage später rief der Pränataldiagnostiker an: In der Langzeitkultur sei doch etwas herausgekommen: ein seltener Gendefekt. Aufgrund dieser Seltenheit konnten weder Humangenetiker noch Pränataldiagnostiker oder andere Fachärzte die Eltern genauer aufklären.

Für das Paar war schon in Gesprächen vor der Schwangerschaft klar, dass ein Schwangerschaftsabbruch nie infrage kommt. „Seit der Diagnose habe ich die Schwangerschaft noch mehr genossen. Sie hat mich und unser Kind noch stärker verbunden“, erzählt Elke.

In einem Online-Forum und beim Sozialen Dienst des Arbeitgebers suchten die werdenden Eltern Gesprächspartner. Sie machten auch einen Termin beim KinderPalliativTeam der Kleinen Riesen Nordhessen aus. „Es war ein tolles Gespräch auf Augenhöhe. Endlich gab es jemand, der uns mit medizinischen Hintergrundwissen Rat geben konnte. Es tat so gut, Verbündete zu haben“, erzählt Elke. Das Geburtsplanungsgespräch in der Klinik war wieder ein schwerer Termin. Das Team der Kleinen Riesen Nordhessen signalisierte: Wir sind da, wenn ihr uns braucht! Das tat gut, denn Freunde und Bekannte wollten Elke und Michael weiterhin nicht treffen.

Annelie kommt auf die Welt

Anfang Dezember war es dann so weit. In 17 Stunden kämpfte sich Annelie auf die Welt. Elke erinnert sich: „Das war auch eine Kopfsache. Ich wollte sie nicht gehen lassen. Ich wusste, in meinem Bauch geht es ihr gut.“ Das Paar hatte sich für eine Geburt ohne CTG-Überwachung entschieden. „Wie sollte ich weiterhin die Kraft für die Geburt aufbringen, wenn Annelie während der Geburt stirbt?“, fragte sich die werdende Mutter.

Annelie war da und meldete sich sofort zu Wort. Die Eltern bekamen gleich viel Zeit mit ihr. Erst später wurde sie auf die Station der Kinderklinik gebracht, abgesaugt und ihr wurde eine Magensonde gelegt. Dann war wieder Kuschelzeit mit Mama und Papa angesagt. Michael erinnert sich: „Sie war so agil und wir hatten Hoffnung, dass sie doch länger leben darf.“

Am nächsten Tag besuchten Mitarbeiterinnen des KinderPalliativTeams Annelie. Knapp vier Wochen blieb Annelie auf Station. „Es war so gut zu wissen, dass sie Tag und Nacht medizinisch betreut wird“, so Elke. „Wir waren zunächst so unsicher, da wir medizinische Laien sind: Was an Annelies Verhalten ist aufgrund ihrer Erkrankung und was bei einem Neugeborenen ganz normal?“. Nach fast vier Wochen ging Annelie mit ihren Eltern zum Weihnachtsfest nach Hause. Die Kleinen Riesen Nordhessen begleiteten die Entlassung. Auch in der Zeit zu Hause war das Team mit seiner fachlichen Kompetenz an der Seite der frisch gebackenen Eltern und 24 Stunden am Tag ansprechbar.

Nach zweieinhalb Wochen war Annelie unruhig, schrie viel. Am Morgen fiel die Sauerstoffsättigung rapide ab, ihr Gesicht wurde grau und das Herz schlug langsamer. Mit dem Rettungswagen wurde Annelie ins Krankenhaus gebracht. Dort mussten die Eltern entscheiden: Intubieren oder nicht. Sie entschieden sich für das Intubieren: „Wir waren noch nicht bereit, sie zu verabschieden. Es war alles gerade so gut.“

Was ist Annelies Weg?

Während Annelie mit Schläuchen, intubiert und sediert in einem Bettchen auf Station lag, begann für die Eltern eine schwierige Zeit als Paar. Elke beschreibt das so: „Jeder war in seiner eigenen Welt und mit sich selbst beschäftigt. Wird diese Situation Annelie gerecht? Heißt die Intubation zu beenden, Annelie aufzugeben?“. Michael ergänzt: „Wir haben ein Baby und wissen nicht, was sie will. Jeder von uns beiden hatte seine eigene Sicht auf die Situation.“ Das Team der Kleinen Riesen Nordhessen war auch in dieser Situation an der Seite der Eltern. Einzelgespräche mit der psychologischen Beraterin halfen dem Paar, wieder gemeinsam nach einer Antwort zu suchen, was Annelies Weg sein könne. Gemeinsam entschieden sie sich, den Tubus ziehen zu lassen und dann den Weg mitzugehen, den Annelie wählt. Sie hatten ihr versprochen, sie noch einmal mit nach Hause zu nehmen.

Nach vier Wochen auf der Intensivstation war der Moment gekommen, dass sie extubiert werden sollte. Die Werte waren schlecht, Annelie ging es nicht gut. Den Eltern war klar, wenn der Tubus gezogen war, wollten sie das nicht wieder rückgängig machen.

Annelie kommt nochmal nach Hause

Gemeinsam mit dem KinderPalliativTeam der Kleinen Riesen Nordhessen wurde Annelie mit dem Baby-Rettungswagen nach Hause gefahren. „Es war unklar, ob sie es noch nach Hause schaffen wird. Die Begleitung durch die Kleinen Riesen hat uns Sicherheit gegeben und war unser Rückhalt“, so die Eltern.

Zuhause angekommen stabilisierte sich Annelie und blühte wieder auf. Die Familie verbrachte ganz viel Zeit zusammen. Elke: „Es war eine tolle und intensive Zeit. Wir vertrauten Annelie, dass sie uns zeigen wird, wie es ihr geht.“ Michael ergänzt: „Wir haben uns fast wie eine ganz normale

Familie gefühlt.“ Sie wurden durch Besuche und Telefonate vom KinderPalliativTeam begleitet, und Annelie durch regelmäßige Hausbesuche medizinisch betreut.

Nach sechs Wochen ging es Annelie von heute auf morgen zunehmend schlechter. Die Eltern hatten sie noch gebadet - Annelie liebte es. Am nächsten Tag war sie aufgeschwemmt und schlapp. Elke erinnert sich: „Ich hatte das Gefühl, dass sie es diesmal nicht wieder schaffen wird.“ Auch das KinderPalliativTeam bereitete die Eltern darauf vor, dass sie mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Annelie verbrachte den ganzen Tag abwechselnd auf dem Arm vom Papa und Mama. Ihre Atmung wurde schwächer. Elke: „Das waren ganz intime Stunden. Ich habe Annelie auf meinen Bauch gelegt. Da kam sie her und da würde sie eventuell auch einschlafen.“

Am 20. März, nach 108 Tagen auf dieser Welt, ist Annelie nachts im Beisein ihrer Eltern verstorben.

Die Eltern sind sich einig: Weil Annelie zuhause sein durfte, konnten sie ihrem Leben Qualität geben. „Ein Leben ausschließlich in der Klinik wäre ihr nicht gerecht geworden,“ reflektiert Elke. Ihr Mann pflichtet ihr bei: „Ein sterbendes Kind gehört nach Hause und nicht ins Krankenhaus. Die Kleinen Riesen mit ihrem multiprofessionellen Team waren für uns Hilfe zur Selbsthilfe. Wir konnten sie rund um die Uhr erreichen. Sie waren für uns „Nachhausekommen“. Wir durften Mut haben und Luftschlösser bauen.“ „Wir sind bei aller Traurigkeit froh und dankbar für diese Erfahrung“, so Elke und Michael mit Blick auf Annelies Foto.

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